Das Goetheanum 4/2006
Kann man Erzengel beweisen?
Das spezifische Wirken der Zeitgeister
Vor drei Jahren erschien im „Goetheanum“ Nr. 1-2/2003 ein Interview mit dem slowakischen Anthroposophen Emil Pales über dessen Forschungen zum Wirken der Erzengel. Im folgenden Artikel soll konkret über die Forschungsergebnisse Pales´ berichtet werden, und zwar anhand des spezifischen Wirkens der Erzengel als Zeitgeister. Dabei wird deutlich: Dieses Wirken ist real und hat somit direkte Auswirkungen auf die Entwicklung der Erde und der auf ihr lebenden Menschen. Für Holger Niederhausen wäre eine „Zusammenarbeit“ zwischen Menschen und Engeln daher durchaus erstrebenswert.
Erschütternde Entdeckungen wirken zunächst sensationell bis „unglaublich“, sie können nur allmählich aufgenommen werden. Kann ihnen ein einzelner Aufsatz überhaupt gerecht werden? Zumindest hinweisen möchte ich auf eine solche Entdeckung: einen völlig neuen Zugang zur Sphäre der Zeitgeister.
Rudolf Steiner sprach von dem sich alle 354 Jahre abwechselnden Wirken der Zeitgeister und stellte insbesondere das vergangene Gabriel-Zeitalter des Materialismus dem anbrechenden Michael-Zeitalter gegenüber. Emil Pales nun betrachtet die verschiedensten Zeitalter, das Wesen der in ihnen wirkenden Zeitgeister und deckt auch einen kleineren Zyklus von 72 Jahren auf.
Über Zeitgeister kann man viel spekulieren. Was aber, wenn jeder Mensch ihr Wirken unbewußt wahrnimmt? Hätten sonst ihre Inspirationen die Menschen ergreifen können? Sie taten es, und so kann man ihr Wirken in der Geschichte sehen lernen – und sogar wissenschaftlich beweisen.
Pales analysierte die Lebensdaten bedeutender Ärzte, Historiker, Poeten und Philosophen sowie politische Instabilitäten. Hierzu hatte der amerikanische Soziologe Sorokin drei Jahrzehnte lang über 100.000 Daten dokumentiert. Doch erst Pales entdeckte immer wieder die gleichen signifikanten Rhythmen von etwa 500 Jahren, und zwar zum Beispiel bei griechischen, chinesischen, arabischen Poeten zur gleichen Zeit!
Schon die Babylonier kannten Oriphiel, Anael, Zachariel, Raphael, Samael, Gabriel und Michael als Planetengötter und Zeitgeister. Bei ihnen hießen sie: Ningirsu (Saturn), Inanna (Venus), Marduk (Jupiter), Nabu (Merkur), Nergal (Mars), Sin (Mond), Shamash (Sonne). Und sie kannten einen 354- und einen 72-jährigen Zyklus. Der letztere entspricht einem Platonischen Weltentag [1], derselbe Zeitgeist tritt nach einer Weltenwoche von 504 Jahren wieder eine „kleine“ Herrschaft an. Der von Pales gefundene Rhythmus deckte sich exakt mit dem Kalender der babylonischen Priester. [2]
Sorokin hatte zahllose innerstaatliche Unruhen in Europa untersucht und kam zu dem Schluß: „Die Kurve fluktuiert, das ist alles, was man über sie sagen kann.“ Doch ihre Maxima im 8., 13., 14. und 19. Jahrhundert lagen alle in Zeitaltern von Anael und Samael – und das absolute Maximum während eines Zusammenwirken beider Erzengel im 13. Jahrhundert!
Anael, der Aufrührer – Oriphiel, sein Gegenpol
Samael-Mars inspiriert Aufstände, aber warum Anael-Venus ebenso? Ist diese Wesenheit nicht die Inspiratorin der Schönheit, der Künste? Ja, auch Dichtkunst und Malerei blühen in ihren Zeitaltern. Aber sie regiert auch das Alter der Pubertät: Zeit der ersten Liebe, der Ideale, Hingabe, Leidenschaft, Auflehnung... Kunst, Leidenschaft und Unruhe – all dies fließt zu einem lebendigen Begriff zusammen. Hier wartet auf die „goetheanistisch-exakte Phantasie“ ein weiteres großes Forschungsfeld.
Welches Zeitalter entspricht in klassischer Weise der Pubertät? Die Romantik! Sie dauerte etwa 70 Jahre und beginnt im Grunde 1774 mit Goethes „Leiden des jungen Werther“. 1773 begann das letzte Anael-Zeitalter... Und die Welt erlebt eine absolute Blüte der Kunst, aber auch die Französische Revolution, die Befreiungskriege gegen Napoleon und in Südamerika, ähnliche Aufstände in Irland, Polen, Rußland, Vietnam.
Das vorhergehende kleine Anael-Zeitalter im 13. Jahrhundert beginnt mit dem Minnesang eines Walter von der Vogelweide, während in Frankreich die Troubadure umherziehen, in Persien die großen Dichter Rumi und Saadi wirken und in China Mönche die Tuschemalerei zu einem Höhepunkt führen. Und das gleiche Zeitalter sieht den Ansturm der Mongolen.
Im 8. Jahrhundert wiederum blüht die chinesische und japanische Poesie (Li Tai-Po, Tu Fu, Tanka-Dichtung), Wu Daozi ist der größte Maler der Tang-Zeit, der gregorianische Choral entwickelt sich. In das noch davor liegende große Anael-Zeitalter (108-463) fällt die Begründung der Malerei, Landschaftslyrik und Kalligraphie in China und die Blüte der Liebespoesie in Indien. Zugleich gab es in China Unruhen, Hunneneinfälle, die Han-Dynastie brach zusammen; Rom führte Kriege gegen die Parther, Goten, Sassaniden und Hunnen, das Reich zerfiel.
Gewissermaßen den Gegenpol bilden die Zeitalter des Oriphiel (Saturn-Kronos). Im einzelnen Menschenleben bestimmt er das neunte Jahrsiebt des reifen Alters. Unter seiner Herrschaft kommen Rückblick und Überschau, Geschichtsschreibung und Astronomie zur Blüte, aber auch Tendenzen zur Vereinheitlichung und Erstarrung.
Im Zeitalter 531-459 v.Chr. lebte der große Historiker Hekataios von Milet, in China entstehen die „Frühlings- und Herbstannalen“. Im großen Zeitalter von 246 v.Chr. bis 108 n.Chr. leben Sallust, Livius, Diodorus, Plutarch, Tacitus, der herausragende Astronom Hipparch und die großen chinesischen Historiker Sima Qian und Ban Gu. Rom wird beherrschende Macht im Mittelmeerraum, und in China vereint die Qin-Dynastie das Reich. Das folgende kleine Zeitalter (477-549) sieht die Historiker Prokopius und Cassiodor und den großen indischen Astronom Aryabatha, in das nächste (981-1053) fallen viele Chroniken, v.a. aber berühmte arabische Astronomen. Das bisher letzte (1557-1629) brachte den Durchbruch der abendländischen Astronomie, aber auch den Impuls zum Absolutismus.
Gabriel, Raphael, Michael und Samael
Gabriel inspiriert unter anderem den Materialismus in seinen verschiedenen Aspekten. Um 400 v.Chr. lebt Demokrit, es entstehen die griechischen „materialistischen“ Schulen. Im ersten Jahrhundert hat China mit Wang Chung seinen großen Materialisten, Rom versinkt unter Nero in dekadenter Sinnesfreude. 500 Jahre später inspiriert Gabriel den Koran. Am Ende des letzten kleinen Gabriel-Zeitalters stehen Newton und John Locke. Die schon zuvor begonnene große Gabriel-Herrschaft bringt die umfassende Beobachtung der Sinnenwelt, zahllose Entdeckungen und den modernen Materialismus.
Raphael – der „heilende“ Erzengel – inspiriert die Medizin, aber auch den Rationalismus. Ins 4. Jahrhundert v.Chr. fallen Hippokrates und seine Schule, aber auch die Sophisten. Im 2. Jahrhundert lebt Galen (über 1000 Jahre lang die absolute Autorität), in Indien der berühmte Arzt Charaka, in China entstehen medizinische Klassiker. 500 Jahre später wirken Paulus von Ägina als erster Chirurg, Sun Si Mao als Vater der Akupunktur, Vaghbata als Modernisierer des Ayurveda. Das große Raphael-Zeitalter (817-1170) vereint die bedeutenden arabischen Ärzte und Aristoteles-Übersetzer: Al-Kindi, Al-Razi, Avicenna. Das anschließende kleine Zeitalter bis 1197 ist die Zeit der Hildegard von Bingen, der berühmten Medizinschule von Salerno und der Begründung zweier klassischer chinesischer Lehrschulen. Im 18. Jahrhundert inspirierte Raphael die Rationalität der Aufklärung und der französischen Enzyklopädisten.
Michael inspirierte noch vor der Zeitenwende eine weltweite Geistesblüte, die den Historikern schon immer auffiel. In das kleine Zeitalter um 300 n.Chr. fällt eine Blüte des Mithraskultes, das Erscheinen des „Sol Dominus“ (Sonne Herrscher) auf den römischen Münzen, der Tod St. Georgs und die legendäre Michael-Vision Konstantins. 500 Jahre später blüht Michaels Verehrung im Reich Karls des Großen, in Indien prägt der berühmte Philosoph Shankara das Geistesleben. Im nächsten kleinen Michael-Zeitalter wirken Thomas von Aquin, Meister Eckart, aber auch Pietro d´Abano und seine Zeitgeisterlehre. Das letzte kleine Zeitalter ab 1845 leitete direkt über in das große Michael-Zeitalter seit 1879. Als beide zusammenfielen, begründete Rudolf Steiner die Anthroposophie.
Ein außerordentliches Hindernis bildete das letzte kleine Samael-Zeitalter. Es begann mit dem Ersten Weltkrieg, brachte die Nazi-Zeit, den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg. Und die früheren Zeitalter Samaels? Im 7. Jahrhundert v.Chr. fallen die Assyrer in Ägypten ein. Im 2. Jahrhundert v.Chr. bekämpfen sich Hunnen und Chinesen, Rom führt den dritten Punischen Krieg und besiegt Griechenland. Im 4. Jahrhundert ziehen die Hunnen nach Westen und lösen die Völkerwanderung und die damit einhergehenden Kämpfe gegen die Römer aus. Im 9. Jahrhundert überfallen Slawen und Araber Konstantinopel, Aufstände in China lassen die Tang-Dynastie zusammenbrechen, die Magyaren plündern in Europa. Das 14. Jahrhundert [3] erlebt die große Pest-Epidemie, Bauernaufstände und Plünderungen. In das große Samael-Zeitalter (1171-1525) fallen außerdem der Dritte und die folgenden Kreuzzüge, die Inquisition und die Mongolenstürme unter Dschingis Khan.
„Wäre er wirklich mit Michael verbunden...“
Wer das Seelenauge entwickelt, könnte das Wirken der Zeitgeister überall in der Welt erfahren und zahllose Beweise liefern. [4] Dann – so Pales – kann man auch an den Universitäten darüber sprechen, ohne daß dies noch belächelt werden könnte. „Ein Anthroposoph, der dem Ahriman aus dem Wege geht, ist kein Anthroposoph. Wäre er wirklich mit Michael innerlich verbunden, müßte der andere den Weg räumen und nicht umgekehrt. Läßt sich ein Anthroposoph in die Ecke drängen durch das Argument, daß es mit dem Gerede über Engel nur eine private Angelegenheit des Glaubens oder persönlicher Erfahrung sei, so läßt er sich von Ahriman Sand in die Augen streuen.“ [5]
Doch selbst mit der „Kenntnis der Beweise“ oder gar mit einem rhetorischen Sieg gegenüber den Zweiflern ist der Kampf gegen den Drachen nicht gewonnen. Im Michael-Zeitalter fallen die wichtigsten Entscheidungen im eigenen Inneren. Denn es stellt sich, es stellt Michael die Frage: Findest Du aus den neu entdeckten Tatsachen wirklichden Weg zu den Engelshierarchien, zu mir, zum Christus?
Die Fülle der von Pales entdeckten Zusammenhänge führt zunächst zur Erkenntnis, daß die geistige Welt wirklich existieren muß. Schon dies allein kann begeistern! Doch den inneren Weg, sich mit dieser Welt täglich mehr zu verbinden – ein moralischer, ein Willensweg –, muß jeder Mensch selbst gehen. Bleibt er bei der intellektuellen Begeisterung stehen, wird er nur einen neuen Empirismus pflegen, ohne das Reich Ahrimans zu verlassen. Wie jedes Werk Steiners steht Pales´ Werk vor der Gefahr, als reines „Wissen“ aufgenommen zu werden. Dieses kann zwar einen heimlichen Hochmut nähren, anderen „etwas voraus zu haben“, doch es wäre das Gegenteil von Erkenntnis oder gar von einem zu gehenden Weg.
Ahriman hofft, daß den Menschen „Beweise“ für die Engelwelt nicht zu Hin-weisen, zu Weg-weisern werden. Daß die Menschen nicht den Impuls spüren, sich mit der Engelwelt auch innerlich mehr und mehr zu verbinden. Die michaelische Verbindung von Wissenschaft, Philosophie und Religion – oder auch Empirie, Denken und offenbarte Erfahrung – war seit jeher die Hoffnung der Slawen. Sie heißt, mit Solowjew, Sophiologie, oder aber: Anthroposophie, als jeweils eigener Erkenntnisweg verstanden.
Seit 1879 ist Michael der große Zeitgeist. Er hat seine Hand zum Wink erhoben und wartet – auch in diesem Jahr.
Holger Niederhausen
[1] Die Reihenfolge dieses kleinen Zyklus ist eine andere: Oriphiel, Gabriel, Raphael, Anael, Michael, Samael, Zachariel.
[2] Es war bekannt, daß dieser zur Zeit Nabonassars im Jahr 747 v.Chr. mit dem Sternbild des Widder eine neue Ära begonnen hatte. Da die Sonne Regent des letzten Grades im Widder (in der Rückwärtsbewegung der erste) ist, wurde Shamash-Michael der erste kleine Zeitgeist im neuen Sternbild – mitten in einem großen Gabriel-Zeitalter.
[3] Im 14. und 15. Jahrhundert folgen zwei Samael-Zeitalter aufeinander. 1413 trat die Sonne vom Widder in die Fische und damit begann ein neuer Zyklus. Samael beherrschte aber auch den letzten Grad in den Fischen.
[4] Gemeint ist nicht, daß es - zum Beispiel - nur im Oriphiel-Zeitalter große Historiker gäbe. Auch geht es nicht um starre Jahresgrenzen. Pales vertritt vielmehr die Auffassung, daß jeweils spezifische Tendenzen stärker werden und wieder abklingen. Hinzu kommt, daß einmal etablierte Formen sich „anachronistisch“ erhalten können, bis ein neuer Impuls greift.